Guten Abend!
Habe Urlaub und Zeit, die sechs Monate seit der Inbesitznahme einer RC79 mal Revue passieren zu lassen. Meine Gedanken bzw. Überlegungen will ich euch nicht vorenthalten (auf's Auge drücken, hehe).
Nachdem die erste Euphorie über den Erwerb verflogen war und es ans Eingemachte ging, also die Alltagstauglichkeit, wurde mir schnell klar: Diese Maschine stellt für mich eine Herausforderung dar: vorderradorientiertes Fahren, Sitzposition/Ergonomie, hoher Schwerpunkt - Dinge, die mich zeitweise ins Grübeln gebracht haben. Als Mensch mit grundpositiver Einstellung - der ich bin - habe ich mich fleißig daran gemacht, diese selbstgemachten und tatsächlichen Probleme "abzuarbeiten".
Was ist beim Fahren eines Motorrads besonders wichtig? Klar, der Wohlfühlfaktor. Und hier steht an erster Stelle das Sicherheitsempfinden. Als ehemaliger CB1100ex-Fahrer stört mich das Gewicht an sich nicht so sehr, aber in Verbindung mit einem sportlichen Anspruch, den die RC79 hat, und einer eher sportlich ausgerichteten Ergonomie, wobei das Kinn in die Nähe des Vorderrads rückt, hatte ich zunehmend ein Gefühl der Unsicherheit. Es dauerte eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass ich die Schöne fahren wollte, wie ein Naked Bike, unbewusst immer so aufrecht wie möglich, mit unnötig viel Arbeitseinsatz an den Stummeln. Das war nicht nur anstrengend, sondern hat mich sogar in zwei, drei sehr gefährliche Situationen gebracht. Das wiederum hat sich mittelfristig auf mein Sicherheitsempfinden ausgewirkt. Es gab Momente, da dachte ich, die Maschine fährt mit mir, anstatt ich mit ihr. Hat sich aber gegeben. Ich bezeichne die RC79 für mich jetzt als "Ganzkörpermaschine" - voller Einsatz = schönstes Fahrerlebnis. Jetzt klappt's hervorragend! Es funzt auch gemütlich, aber hey, da gehen auch 50% Fahrspaß bei flöten ...
Die RC79 als Gesamtpaket begeistert mich nach wie vor. Sie ist eine Augenweide, die "Shutlines", also das Ineinanderspielen der verbauten Komponenten, vermitteln einen kompakten, gediegenen, hochwertigen, insgesamt einen wunderschönen Eindruck. Ein Augenmagnet auf jedem Motorradtreff, und ein Gartenstuhl in der Garage ersetzt jedes Fernsehprogramm. Auch die inneren Werte stimmen. Der Motor macht Musik, ich werde nicht satt, die zu hören.
Mit der Leistung bin ich vollauf zufrieden, mehr brauche ich nicht, mehr habe ich mir bei bisher 8500 gefahrenen Kilometern in keiner Situation gewünscht. Man muss halt am Hahn ziehen, VTEC taktisch eingesetzt relativiert den hier und da mokierten mangelhaften Durchzug. Die Einstellungen der Federelemente sind noch in der Optimierungsphase, aber ich nähere mich meinen persönlichen Idealwerten. Spritverbrauch ist im Rahmen, ich liege momentan bei einem Durchschnitt von 4,9 Liter. Mit der Reichweite bin ich sehr zufrieden. Der Gesamtzustand der Maschine ist immer noch 1a, quasi wie frisch über die Ladentheke (ohne übertriebenen Pflegeaufwand).
Die Erstbereifung, Dunlop D222, weicht nach wie gesagt 8500 Kilometern am kommenden Dienstag einem Satz Dunlop Sportmax Roadsmart III. Ich war mit der Erstbereifung durchaus zufrieden. Die Bremsen sind insgesamt okay, etwas harsch auf den letzten Meter vorm Reifenstillstand, aber damit kann ich leben. Ich bin aber eher ein Motorbremsenfahrer und werfe selten heftig den Anker. Die Kupplung empfinde ich manchmal als hakelig, besonders zwischen dem 5. u. 6. Gang, und wenn sie (sehr langsam natürlich) rollt, mag meine Schöne das Runterschalten in den 1. überhaupt nicht. Überhaupt, das Schalten verlangt Nachdruck bzw. Eindeutigkeit. Schleifende Kupplung in höheren Gängen (passiert mir manchmal), da macht sie Diva-mäßigen Terror und gibt mir einen "-" Balken als Mittelfingerersatz. Bemühe mich, das abzustellen.
Hochgradig zufrieden bin ich mit den LEDs. Habe viele Dunkelheitsfahrten auf dem Weg zur Arbeit absolviert, dabei sind etliche Autobahnkilometer. Ich sehe hervorragend und werde ganz offensichtlich auch gut gesehen - die linke Spur wird in der Regel schnell geräumt, wenn ich im Rückspiegel auftauche, auch dann, wenn die Verkehrssituation unübersichtlich wirkt/ist. Mehr kann man sich nicht wünschen. Das Koffersystem ist klasse. Für meine Begriffe schon massig Stauraum. Und die Innenräume bleiben knochentrocken auch bei langen Fahrten im Regen und auch Starkregen. der Wind/Wetterschutz ist für mein Körpermaß von 175 cm ideal. Im Zusammenspiel mit meinem X-Lite null Verwirbelungen, Regen und Spritzwasser treffen mich nur an den Schultern (und nicht sonderlich störend das Visier), bei entsprechender Geschwindigkeit natürlich.
Der einzige echte Minuspunkt der Maschine ist für mich der hohe Schwerpunkt. Mit meinen kurzen Beinen habe ich den einen oder anderen kippeligen Moment bei Langsamfahrten und beim Rangieren, wo auch das Gewicht wieder eine Rolle spielt. Da hatte ich schon ein, zwei Herzattacken. Auch lässt sie sich verhältnismäßig schwer auf den Hauptständer wuchten, schwerer jedenfalls als die noch etwas dickere CB1100. Etwas störend die Vibrationen in den Spiegeln, interessanterweise im rechten mehr als im linken. Auch schlägt mein Popometer nach mehrstündiger Fahrerei deutlich in den roten Bereich aus. Vielleicht bin ich in der Hinsicht aber auch einfach ein Weichei.
Hingegen was mir besonders gut gefällt, und was bisher kein anderes Motorrad toppen kann: Das Cockpit. Ich liebe diesen zentralen, analogen Drehzahlmesser, das Negativ-Display, die übersichtliche, großzügige Anordnung der Infos, die Ablesbarkeit bei Tageslicht, die Hintergrundbeleuchtung bei Dunkelheit. Auf modernen TFTs mag man Filme in HD-Qualität anschauen können, aber es sind und bleiben hässliche kleine Quetschkommoden.
Weil die RC79 für mich mehr darstellt, als die Summe ihrer Teile, ergibt sich für mich ein insgesamt einmaliges Fahrerlebnis. Und das wird runder und besser, je mehr ich sie bewege. Alles spielt - ich finde keine bessere Beschreibung - perfekt zusammen. Natürlich interessiere ich mich immer mal wieder für andere Motorräder. die setze ich stets in einen direkten Vergleich mit der VFR, und bisher kommt die immer besser weg. Noch bietet sie mir fast alles, was ich von einem Motorrad erwarte, und was sie mir nicht bieten kann, reicht nicht aus, um mir die Freude an ihr so zu schmälern, dass der Wunsch zu einem Wechsel aufkommt. Bisschen umständlich ausgedrückt, aber ihr versteht schon, denke ich.
In Sachen Spaßfaktor und Alltagstauglichkeit, Verarbeitung, Zuverlässigkeit und Handling lässt die VFR 800 F aus meiner Sicht kaum Wünsche offen. Mal schauen, was mir im Laufe der Saison noch so auffällt. Dass sich an meiner Einschätzung irgendwas ändert, wage ich aber zu bezweifeln. Das perfekte Motorrad gibt's nicht, aber die RC79 ist verdammt nahe dran!
Gruß
Jörg